Wahlrechtsreform: Das erweiterte Verhältniswahl­system für Deutschland

von Dr. Holger Schwarzlose

Stand: 07.11.2022

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Zusammenfassung

Der Bundestag hat eine Wahlrechtskommission gebildet, die das bestehende Wahlrecht reformieren soll, da das derzeit bei Bundestagswahlen angewandte personalisierte Verhältniswahlsystem in sich widersprüchlich ist und zu einer erheblichen Aufblähung des Bundestages geführt hat. Das „erweiterte Verhältniswahlsystem“ vermeidet diese Unzulänglichkeiten, indem es eine konstante Sitzplatzanzahl im Bundestag garantiert und dabei dem Wähler* die Entscheidung darüber überlässt, welche der von den politischen Parteien aufgestellten Kandidaten dort als Abgeordnete einziehen sollen: Die Demokratie wird gestärkt. Eine Neuordnung der Wahlkreise ist wünschenswert, jedoch nicht zwingend erforderlich. Der derzeitige Wahlprozess ändert sich nur unwesentlich. Das Grundgesetz bleibt unberührt.

Heutiges System

In der Bundesrepublik Deutschland wird seit ihrer Gründung bei Bundestagswahlen ein Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahlsystem angewendet. Dabei entscheidet die sogenannte Zweitstimme über den Anteil der Sitze der Parteien im Bundestag. Mit der Erststimme werden einzelne Kandidaten direkt ins Parlament entsendet. Dieses System ist allerdings nur so lange systemgerecht, wie die Zahl der Direktmandate einzelner Parteien die Zahl der ihr gemäß ihrem Wahlergebnis zustehenden Mandate nicht übersteigt. Tritt dieser Fall doch auf, wäre die betreffende Partei im Bundestag überrepräsentiert und der Wählerwille entsprechend missachtet.

Der so verzerrten parlamentarischen Wiedergabe des Wahlergebnisses durch derartige Überhangmandate wird seit 2013 durch die Einführung von Ausgleichsmandaten entgegengewirkt. Dadurch entspricht die Zusammensetzung des Bundestages zwar weitgehend dem zugrunde liegenden Wahlergebnis, doch bläht sich seither die Anzahl der Parlamentssitze auf. Dieser Vorgang verstärkt sich einerseits wegen der derzeitigen Schrumpfung der Volksparteien, weil dadurch deren Überhangmandate einen wachsenden Anteil an ihrer gesamten Sitzplatzzahl gewinnen, und andererseits durch die zunehmende Zahl der Parteien im Bundestag mit der Folge zusätzlicher Ausgleichsmandate. Zurzeit (2022) beträgt die Zahl der Sitze 735 statt wie vorgesehen 598. Theoretisch ist ein Aufblähen des Parlaments durch die Sondermandate bis über das Dreifache seiner Sollstärke hinaus denkbar. Zwar kann sich dieser Effekt umkehren, doch ist das ständige Wachsen und Schrumpfen des Parlaments bei nahezu gleichbleibender Zahl der Wahlberechtigten in mehrerlei Hinsicht unsinnig und kostenintensiv.

Die Grundlagen des heutigen Systems wurden im Zuge der Erarbeitung des Grundgesetzes gelegt, das unter Einflussnahme der damaligen Besatzungsmächte, insbesondere der US-Amerikaner entstand. Die Weimarer Verfassung, auf der das Grundgesetz weitgehend fußt, kannte das Mehrheitswahlrecht nicht, sondern präferierte das Verhältniswahlsystem, um die Zusammensetzung des Wählerwillens im Parlament adäquat abzubilden. Andererseits galt damals, 1949, das Mehrheitswahlsystem der Amerikaner insofern als vorbildlich, als es bevorzugt Personen statt Parteien Gestaltungsmacht zuwies. So wurde das Mischsystem im Bundeswahlgesetz, nicht jedoch im Grundgesetz verankert. Dabei wurde dessen innere Widersprüchlichkeit nicht angemessen bewertet. Die direkt gewählten Kandidaten repräsentieren zwar ihren „gewonnenen“ Wahlkreis, doch im Übrigen beschränkt sich ihr Vorteil lediglich darin, einen sicheren Sitz im Parlament erlangt zu haben. Laut Grundgesetz sind sie nicht nur Vertreter ihrer Wahlkreise, sondern des ganzen Volkes. Einmal im Bundestag, haben sie keinerlei Sonderrechte. Ihre Direktwahl führt also nicht zu besonderem Einfluss und bleibt folglich ohne zusätzlichen Nutzen für die Demokratie.

Die Unzulänglichkeiten des jetzigen Systems sind zwar allgemein bekannt und sollen auch baldigst behoben werden, doch basieren die zurzeit diskutierten Reformansätze nahezu alle auf dem Mischsystem. Dies gilt sowohl für den ersten gemeinsamen Entwurf der Kommission zur Reform des Wahlrechts, als auch für fast alle anderen Vorschläge verschiedener Gremien, darunter auch für den vom Verein „Mehr Demokratie“. So bieten sie zwar Verbesserungen, stellen jedoch das Mischsystem nicht grundsätzlich in Frage. Offensichtlich glaubt man, die gewünschte Personalisierung nur mit diesem System garantieren zu können. Dies ist ein Irrtum, wie im Folgenden gezeigt wird.

Im hier vorgestellten System wird von den bestehenden Wahlkreisen ausgegangen. Deren Überarbeitung (Verdopplung) ist zwar dringend geboten, würde jedoch die endgültige Wahlrechtsreform über Gebühr verzögern. Die unterschiedliche Größe der Wahlkreise wird hier mit statistischen Mitteln kompensiert.

Das neue Wahlsystem

Das hier vorgestellte erweiterte Verhältniswahlsystem  

  • garantiert eine gleichbleibende Anzahl von Abgeordneten im Bundestag,
  • kennt keine Überhang- und Ausgleichsmandate,
  • bildet in der Zusammensetzung des Parlaments den Wählerwillen exakt ab,
  • gibt dem Wähler die Möglichkeit, weitaus mehr Personen seines Vertrauens direkt ins Parlament zu senden als üblich, ist also besonders stark personalisiert,
  • berücksichtigt die unterschiedliche Größe der Wahlkreise,
  • ist ohne größeren Aufwand und kostengünstig umzusetzen und
  • ist schlüssig und leicht verständlich,
  • kennt keine Sonderregeln,
  • ist zielgenau
  • und erfordert keine Änderung des Grundgesetzes.

Vorbereitung

  1. Jede zur Bundestagswahl zugelassene politische Partei erstellt – wie bisher – für jedes Bundesland gemäß dem föderalen Prinzip eine Landesliste, in der ihre Kandidaten in absteigender Rangfolge eingetragen sind (Kandidatenliste).

  2. Der Bundeswahlleiter errechnet für jedes Land die Anzahl der ihm zustehenden Bundestagssitze, von denen es insgesamt 598 gibt. Grundlage hierfür sind nicht die jeweiligen Wahlkreise, sondern die Anteile an der deutschen Wohnbevölkerung. (Statt der Wohnbevölkerung sollte besser die Zahl der Wahlberechtigten als Grundlage dienen.)
     
  3. Die Parteien teilen den Landeswahlleitern mit, welche ihrer auf der Rangliste ausgewiesenen Kandidaten in welchen Wahlkreisen im Land aufgestellt werden. Dabei sind sämtliche Kandidaten zuzuordnen. Für jeden Kandidaten kann nur 1 Wahlkreis festgelegt und es können – solange die Zahl der Mandate und Kreise nicht gleich ist – maximal 2 Kandidaten je Wahlkreis genannt werden.
    • Begründung:
      Aus jedem Wahlkreis werden derzeit deutschlandweit zumeist zwei Abgeordnete in den Bundestag entsandt. Wenn eine Partei darauf hofft, bis zu 50 % der Stimmen eines Landes zu erhalten, wird sie folglich in jedem Wahlkreis dieses Landes genau einen Kandidaten aufstellen. Nur dann, wenn sie einen noch höheren Zuspruch als sicher erachtet, sollte sie in einzelnen Wahlkreisen zwei Kandidaten aufstellen. Denn diese beiden Kandidaten treten in Konkurrenz zueinander und müssen sich die Stimmen aus ihrem Wählerpotential teilen. Dadurch sinken ihre Chancen auf ein Bundestagsmandat. Grundsätzlich wird jede Partei einige Kandidaten mehr aufstellen, als sie erwartet, Abgeordnete in den Bundestag schicken zu dürfen. In der Gesamtheit der Wahlkreise taucht der Name eines Kandidaten nur ein einziges Mal auf. Denn durch Mehrfachbenennungen hätte eine Partei die Möglichkeit, die Wahlergebnisliste (s. u.) zu manipulieren. (Bei gleicher Zahl von Wahlkreisen und Bundestagssitzen wäre dies ausgeschlossen, weil andernfalls die betreffende Partei Gefahr liefe, weniger Kandidaten in den Bundestag schicken zu können, als ihr rechnerisch zustünde.)

  4. Der Landeswahlleiter gibt den Druck der Stimmzettel für die einzelnen Wahlkreise gemäß den oben genannten Vorgaben in Auftrag.

Durchführung

Der Wähler hat 2 Stimmen. Es wird eine Partei gewählt und optional zusätzlich ein Kandidat. Dieser kann auch einer anderen Partei angehören (wie bisher).

Auf dem Stimmzettel eines bestimmten Kreises sind sämtliche Parteien aufgeführt, die dort zur Bundestagswahl zugelassen sind.

Stimmzettel

Es wird auf dem Stimmzettel bei einer der aufgeführten Parteien ein Kreuz gesetzt. Diese Stimme entscheidet über die Anzahl der Abgeordneten, die die gewählte Partei in den Bundestag schickt. Zusätzlich kann eines der Personenfelder – soweit vorhanden – markiert werden. Hier wird entschieden, welche Kandidaten dieser Partei ein Mandat erhalten.

Kleine Parteien verfügen oft nicht über genügend Personal, um in jedem Wahlkreis einen Kandidaten aufstellen zu können. Hier kann folglich nur die Partei gewählt werden.

Bei jedem Kandidaten wird dessen Beruf und Wohnort genannt, weil diese Merkmale wahlentscheidend sein können.

Sind mehr als 2 Felder markiert, ist der Stimmzettel ungültig.

Auswertung

Errechnung der Bundestagssitze einer Partei

Die Landesstimmen für die jeweiligen Parteien (Kreuze neben dem Parteinamen) werden addiert und ihr Anteil an der Summe der entsprechenden Stimmen aller Parteien festgestellt. Daraus ergibt sich für jede Partei die Anzahl der Abgeordneten, die sie aus diesem Land in den Bundestag senden können. Die Addition der Abgeordnetenzahlen aller 16 Länder für eine bestimmte Partei ergibt die Gesamtzahl ihrer dortigen Sitze.

Erstellung einer Wahlergebnisliste

Mit der Festlegung der Zahl von Abgeordneten einer Partei im Bundestag ist noch nicht bestimmt, welche Abgeordneten dieser Partei die dortigen Sitze einnehmen sollen. Dazu dient der jeweiligen Partei im bisherigen System allein die Landesliste (Kandidatenliste) mit ihrer vorgegebenen Rangfolge, wobei der Direktkandidat grundsätzlich an erster Stelle steht. Im neuen System, das das Merkmal „Direktmandat“ nicht kennt, wird amtlicherseits eine weitere landesbezogene Rangliste erstellt, die Wahlergebnisliste.

Hierbei werden die Stimmen in den Wahlzetteln für die einzelnen Kandidaten der jeweiligen Partei landesweit addiert und die Summen in eine absteigende Rangfolge gebracht. Es ergibt sich die vorläufige Wahlergebnisliste.

Dazu wurden bestimmte Annahmen getroffen:

An der Anfertigung der Kandidatenliste (Landesliste), einer Partei (Vor-Auswahl) sind nur eher wenige Parteimitglieder beteiligt. Bei der Stimmabgabe der etwa 100.000 Wahlberechtigten eines Wahlkreises können dagegen bei 40 zugelassenen Parteien durchschnittlich 2.500 Stimmen auf jeden Kandidaten entfallen. Bei großen Parteien, die auf jeden Stimmzettel bis zu zwei Kandidaten ausweisen, ist diese Zahl erheblich höher, bei kleinen Parteien entsprechend niedriger. In jedem Fall ist die Aussagekraft zur Beliebtheit eines Kandidaten bei der eigentlichen Wahl deutlich größer, als bei der parteiinternen Aufstellung der Landesliste.

Es wird davon ausgegangen, dass sich die Zustimmung zu einem Kandidaten einer Partei, die er in seinem Wahlkreis erfährt, auch in allen anderen Wahlkreisen des betreffenden Landes bei gleichem Bekanntheitsgrad wiederholen würde. Diese Annahme ist zulässig, weil die Homogenität der Wähler eines Landes hinreichend groß ist. Die Stimmzahlen der Kandidaten derselben Partei ergeben eine Rangliste, die Wahlergebnisliste.

Da sich die Zahl der Wahlberechtigten der Wahlkreise eines Landes nicht unerheblich unterscheiden, müssen die Zustimmungswerte der Kandidaten durch Faktoren gewichtet werden. Hierbei werden die Stimmzahlen der Kandidaten des Wahlkreises mit der größten Zahl von Wahlberechtigten mit dem Faktor 1 multipliziert, die übrigen mit demjenigen, der sich aus der Division der Zahl dieses größten Kreises durch die entsprechende Zahl des betrachteten Kreises ergibt. Es entsteht die korrigierte Wahlergebnisliste.

Auswahl der Kandidaten

Gemäß der Rangfolge der Kandidaten in der korrigierten Wahlergebnisliste und der vorgegebenen Zahl der Sitze ihrer jeweiligen Partei wird ihnen nunmehr der Abgeordnetenstatus erteilt. Die Kandidatenliste (Landesliste) wird zusätzlich nur dann angewendet, wenn Kandidaten dieselbe Stimmenzahl auf sich vereinigten oder andere Kandidaten keine Stimmen erhielten, aber nachrücken konnten.

Abgeordnete repräsentieren die Wählerschaft ihres jeweiligen Wahlkreises und vertreten das gesamte Wahlvolk.

Manche Wahlkreise könnten bei der Mandatszuweisung leer ausgehen, weil keiner der dort aufgestellten Kandidaten genügend Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, meist eine – durchaus nicht unerwünschte – Folge mangelnder Wahlbeteiligung.

Spätere Änderungen

Die Reform des Wahlsystems findet mit der späteren Überarbeitung der Wahlkreise ihren Abschluss: Die Anzahl der Abgeordnetensitze im Bundestag und die der Wahlkreise sollen übereinstimmen. Auch die Einwohnerzahlen der Wahlkreise sollen annähernd gleich sein. Etwa 450 Sitze und Wahlkreise erscheinen angemessen. Dadurch gewinnt das System bei sinkenden Kosten an Transparenz, und die Beziehung der Kandidaten zu ihrer Wahlkreisbevölkerung wird intensiviert.

Angesichts der demografischen Entwicklung und der verbesserten Allgemeinbildung der Jugend sollte das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden.

Zur besseren Kenntlichmachung des einzelnen Kandidaten sollte seinem Namen auf dem Stimmzettel ein Bild zugeordnet werden.

Die 5 %-Klausel ist zu überdenken.


Verfasser: Dr. Holger Schwarzlose, Osnabrück

*Es gilt das generische Maskulinum.

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